Gedanken über Wahrheit
Autor : Gerd Raudenbusch
Stand : 27.11.2023
Inhalt
- Wofür wir Wahrheit brauchen
- Die Sinne und der Sinn
- Subjektive Wahrheit
- Objektive Wahrheit
- Alternative Wahrheit
- Wissenschaftliche Wahrheit
- Kommunikation von Wahrheit und Wahrheit durch Kommunikation
- Entwurf der eigenen Wahrheit
- Appell
- Fazit
Wofür wir Wahrheit brauchen
Wahrheit ist die Grundlage all unserer Entscheidungen zu unseren Handlungen, um dauerhaft zu überleben, uns zu entwickeln und glücklich zu sein.
Die Sinne und der Sinn
Unsere Sinnesorgane (jegliche Messinstrumente sind nur deren verlängerter Arm) liefern uns Informationen über die Umwelt. Ihre physische Bauart und die Verarbeitung ihrer Signale ist bei einer Art von Lebensform, wie z. B. uns Menschen gewöhnlich so ähnlich, daß auch die ersten Schlussfolgerungen, also die Sinnfindung daraus oftmals Ähnlichkeiten vorweist.
Sinn ist auch ein Mittel zur Reduktion von Komplexität. Die Umwelt ist unendlich komplex, wir sind es aber nicht. Darum müssen wir aus unseren Wahrnehmungen Muster bilden und präferieren, um Handlungswillen bilden zu können.
Subjektive Wahrheit
Die kleinste Ballung subjektiver Wahrheit ist die Summe aller Wahrnehmungen und deren Sinnfindungen, an denen eine einzelne Lebensform festhält. Man sollte stets respektieren, daß diese Sammlung von Fixpunkten oder Eigenwerten die von ihr beste ermittelte Lösung zum Durchschreiten ihres bisherigen Lebenswegs repräsentiert.
Informationen reduzieren zunächst die Ungewissheit, sobald sie als Wahrheit akzeptiert werden. Für Informationskonflikte haben wir gewöhnlich zwei elementare Lösungen :
- Entweder wir verwerfen die Alternativen als unbrauchbar zugunsten der Gültigkeit einer bestimmten Information,
- oder wir trennen sie durch verschiedene Kontexte, also Gültigkeitsbereiche voneinander.
»Der Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten.«
Albert Camus
Objektive Wahrheit
Wahrheit muss zwingend reflektiert, also durch Kommunikation gegeneinander abgewogen und abgeglichen werden, damit ihr Anhänger-Kreis überhaupt wachsen kann, denn unreflektierte, subjektive Wahrheiten können stets Trugbilder (falsche oder nicht ausreichende Wahrnehmungen) oder Trugschlüsse (falsche oder nicht ausreichende Überlegungen) sein.
Wenn man aber unter "Objekt" ein System1 ohne Umwelt und unter "Subjekt" ein System1 mit Umwelt versteht, wird klar : Objektive Wahrheit ist eine reine Idealvorstellung - Es gibt keine objektive Wahrheit! Denn dazu müßte sie mit jedem existierenden Menschen dieser Welt, der zu einer Stellungnahme fähig ist reflektiert werden. Da dies praktisch unmöglich ist, ist Wahrheit folglich immer bis zu einem gewissen Grad subjektiv.
»Objektive Wahrheit schließt die Möglichkeit des Weiterreflektierens aus.«
Gotthard Günther
Man kann unter objektiver Wahrheit also bestenfalls einen gemeinsamen Konsens von Wahrnehmungen und Schlüssen mit begrenztem Radius verstehen.
- Es gibt keine objektive Wahrnehmung aufgrund ihrer Beschränkung auf artspezifische Sinnesorgane und Messinstrumente.
- Es gibt keine objektive Beobachtung, weil jeder Beobachtung immer ein bestimmter Blickwinkel oder eine Perspektive innewohnt.
- Es gibt keine objektive Beschreibung der Realität. Jede Beschreibung zeichnet auch ein Bild über denjenigen, der sie angefertigt hat.
- Es gibt keine objektive Erkenntnis, weil die Beobachtungen durch die aktuelle Gesamterfahrung selektiert und gefiltert werden. Die Erkenntnis ist nicht nur der vorausgegangenen, subjektiven Wahrheit ausgeliefert, sondern die Wahrnehmung ist auch durch die bisherige Gesamt-Erkenntnis stets selektiv.
Alternative Wahrheit
Was oft mit dem Glauben von Überlegenheit und dem spielerischen Weiterverfolgen von unbewiesenen Annahmen im Kopf beginnt, kann sich im Laufe von Jahren zu einer handfesten alternativen Glaubensideologie entwickeln, die aber manchmal aufgrund ihres Widerspruchs zu ihrer Umwelt irgendwann nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, und sich dann am Ende, wenn zu spät entdeckt, als Gefängnis entpuppt; denn niemand kann seine ganze Gesinnung von heute auf morgen ändern.
»Man darf sich nicht darauf beschränken, nur das zu sehen, woran man glaubt, sondern man sollte auch das glauben, was man offensichtlich sehen kann.«
Es gibt eigentlich überhaupt keinen Grund, zwingend auf eine bestimmte Wahrheit zu beharren oder an ihr festzuhalten. Aber es gibt Alternativen von Wahrheiten, die die aktuellen Handlungsspielräume der beteiligten Anhänger erweitern, und solche Wahrheiten, die sie einschränken und in Sackgassen des Denkens oder Handelns führen. Daher ist es notwendig, das Denken und Handeln ununterbrochen zu hinterfragen.
Wissenschaftliche Wahrheit
Die im Laufe der Entwicklung entstandene Wissenschaftstheorie hat den Prozess der wissenschaftlichen Wahrheitfindung sehr agil und stabil gemacht und Methoden entwickelt, um Aberglaube, Trugbilder und Trugschlüsse zuverlässig abzuwenden. Dabei wurden Empirismus und Rationalismus durch Induktion, Deduktion und Abduktion miteinander verbunden.
Aber auch wissenschaftliche Theorien können alternativ existieren, und auch Wissenschaftler sind Menschen und haben als solche allerlei subjektive Gesinnungen und Prägungen, die ihre Arbeit beeinflussen können, selbst wenn sie selbst dies nicht bewußt wollen und obwohl es Mechanismen gibt, die dies verhindern sollen.
Darüberhinaus hat die Wissenschaft, wie auch ihre Vertreter lange an eine objektive Realität geglaubt und nicht-autologische Theorien über sie entwickelt. Man erkannte erst vor einigen Jahrzehnten (Schrödinger, Heisenberg, Higgs), daß es diese objektive Realität so nicht gibt. Die Folgen daraus sind noch nicht überwunden.
Kommunikation von Wahrheit und Wahrheit durch Kommunikation
Wir wissen, daß die "objektive Wahrheit", oder präziser, die für uns nächstgrößere Annäherung davon mächtiger als unsere eigene ist, da sie auch Umstände beeinflusst, die nicht mehr in unserer eigenen Entscheidungsgewalt liegen, uns aber dennoch betreffen.
Daraus folgt aber, daß der Mensch zuweilen Wahrheiten, bevor er sie kommuniziert, auch anpasst, um bei den Empfängern gewisse erwünschte Handlungen oder Veränderungen zu erzielen. Auch die Art der Präsentation seiner Wahrheit spielt dabei eine wesentliche Rolle (Rhetorik, Psychologie, Medienwirkung).
Jeder Mensch beeinflusst seine Mitmenschen bewußt oder unterbewußt. Dies muss per se nicht negativ sein, so wie es der Begriff "Manipulation" stets impliziert.
„Wahrheiten“ aber, (nicht zu verwechseln mit dem Akt ihrer Kommunikation!), hinter denen solche Absichten oder Interessen erkennbar sind, können heutzutage nicht mehr, als nur noch Aufschluß über die Gesinnung derjenigen zu geben, die sie verbreiten, da im Informationszeitalter, in dem wir leben, zur Vertretung fast jeden beliebigen Interesses die passenden Informationen als Instrument gefunden werden können.
Da wir dies aber voneinander wissen, subtrahieren wir aus kommunizierter Wahrheit fast automatisch den subjektiven Anteil heraus, der uns ungerechtfertigt erscheint, z. B. weil wir den Eindruck haben, daß die Gegenseite sich oder ihre Information überschätzt, unnötig Macht ausüben will oder zu einer Ideologie tendiert, die uns nicht zukunftsträchtig oder zuträglich erscheint.
Entwurf der eigenen Wahrheit
Wir haben die Möglichkeit, bis zu gewissem Grade selbst zu entscheiden, wie unsere Wahrheit aussieht. Indem wir unsere eigenen Akte der Beobachtung und des Informationskonsums beobachten :
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können wir feststellen, ob uns bestimmte Informationen schaden, weil diese unsere Ängste zu sehr schüren. Da uns Angst zu kopflosen Marionetten macht, ist ein Immunsystem gegen solche Einflüsse sinnvoll und notwendig. Wir müssen vernunftbestimmt handlungsfähig bleiben, um gegen Mißstände vorgehen zu können. Dazu muß die Konfrontation mit problematischen Imformationen bewußt und feinfühlig dosiert werden. Wer Bedrohungen ignoriert, ist ihnen im Zweifel schutzlos ausgeliefert. Wer aber nur noch in Angst vor ihnen lebt, ohne dies wirklich zu müssen, der macht etwas falsch, er kann Anderen nicht helfen und gefährdet auch noch seine eigene geistige Gesundheit.
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können wir feststellen, welche Informationen uns gut tun, unsere Empathie und unsere Kreativität fördern und uns neue Türen öffnen. Denn nur dies kann uns auf neue Ideen bringen; Ideen, die uns womöglich zu wirklichen Lösungen führen anstatt Probleme stets nur zu beklagen und anderen in die Schuhe zu schieben.
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können wir blinde Flecken im eigenen Weltbild entdecken. Diese Erkenntnis ermöglicht uns die bewußte Entscheidung, welche Flecken wir zukünftig schärfer sehen wollen und welche wir lieber unscharf lassen. Da heutzutage niemand mehr noch imstande ist, alles zu wissen, können wir so die natürliche Informationsökonomie unseres Denkorgans optimal für uns nutzen.
Appell
- Interessen sollten stets den Handlungen vorbehalten bleiben, nicht aber den Wahrheiten selbst, die sie legitimieren.
- Die einzig legitime Überzeugung von Wahrheit wird nur durch die Auflösung von Widersprüchen durch Beleuchtung aus vielen verschiedenen Perspektiven erreicht und nicht durch Wiederholung oder Verschweigen von Informationen oder deren Vertretung durch inszenierte Mehrheiten. Und dies sollte immer das einzige Interesse all jener sein, die andere aufrichtig informieren (und nicht kontrollieren) wollen. Durch ein davon abweichendes Gebahren entpuppen sich solche Quellen bald als einseitig, unseriös oder nicht vertrauenswürdig.
- Paternalismus ist keine Lösung, um Verantwortungslosigkeit und Unmündigkeit zu begegnen, sondern er ist erst das Problem, welches diese hervorbringt !
- Selbstbestimmtheit fängt nicht nur mit der Wahl der Emotionen, sondern auch der Informationen an.
- Über Wahrheit reflektiert man niemals, indem man seine Gesprächspartner persönlich angreift oder diffamiert oder sich selbst von solchen Praktiken beeindrucken läßt.
»Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute die ganze Zeit — aber man kann nicht alle Leute die ganze Zeit zum Narren halten !«
Abraham Lincoln, der 16. Präsident der Vereinigten Staaten, der 1865 die Sklaverei abgeschafft hatte
Fazit
Wahrheit ist kein Toilettenpapier, so wie sie von Vielen benutzt wird. Informationen und Nachrichten müssen, da dies so oft ignoriert wird, heutzutage stets vielseitig, umsichtig und mit Rücksicht auf die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse konsumiert werden. Wer diese Ansprüche nicht erhebt, läuft Gefahr, früher oder später selbst geistig gelähmt und instrumentalisiert, also ohne eigenes Wissen zur Verbreitung von Angst oder Ausübung von Handlungsdruck (Macht) auf Andere benutzt zu werden.
Die große philosophische Frage : "Wieviel Intoleranz ist eigentlich tolerierbar", beantworten uns zur Zeit am besten der Humanismus und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Aber auch diese dürfen wir nicht einfach unvoreingenommen dogmatisieren, sondern wir müssen uns stets fragen, ob sie ihr Fundament tief genug legen, um allen Menschen dienen zu können und erfolgreich verstanden und anerkannt zu werden.
Was wir nicht tolerieren können und dürfen, sind Handlungen, die als Konsequenz der Ignoranz dieser so schwer geborenen menschlichen Grundwerte versuchen, gerade diese einfach abzuschaffen oder auszuhöhlen.
Auch wenn die Motive vordergründig die Richtigen sein mögen, kann nicht einfach alles "gecancelt" werden, was Einem nicht passt, denn so können sich weder persönliche Standpunkte festigen, noch gesellschaftliche Emergenz, sondern lediglich fanatische Gesellschaftsideologien entwickeln, die unsere bisherigen Handlungsspielräume einfach nur massiv einschränken würden. Für Menschen, die sich dies wirklich wünschen, gibt es (leider) aktuell noch attraktivere dauerhafte Aufenthaltsorte, als Westeuropa, die dies erlebbar machen.
»Ich bin zwar nicht ihrer Meinung, aber ich will alles tun, damit sie ihre Meinung frei äußern können.«
Voltaire. Autor, Historiker und Philosoph der französischen und europäischen Aufklärung (1694–1778)