Über die anthromorphe Dualität
Autor : Gerd Raudenbusch
Stand : 12.10.2024
Inhalt
- Digitale Dualität
- Feindbilder
- Algorithmen
- Fehlschlüsse
- Fatalismus und Determinismus
- Dualismus in der Philosophie
- Die anthromorphe Dualität
- Depolarisierung
- Weiterführende Quellen
Digitale Dualität
Seit dem das digitale Zeitalter begonnen hat, führen wir uns mit unserer Technik vor, zu was Dualität imstande ist. Bilder, Töne, Sprache und Kommunikation bilden wir in einem binären Raum von Einsen und Nullen, von Strom an und Strom aus, von Ja und Nein komplett digital ab. Alles in dieser dualen Welt lässt sich programmieren, automatisieren und kontrollieren. Alles.
Obwohl die reale analoge Welt, in der wir geborgen sind, in jeder einzelnen ihrer Dimensionen eine eigene Unendlichkeit bereithält, ist uns klar geworden, dass sowohl der Wahrnehmungsbereich, als auch die Schärfe unserer Sinne diesen realen Unendlichkeiten nicht gewachsen ist und sich daher unsere Sinne mit nur hinreichender Genauigkeit von endlicher Präzision perfekt täuschen lassen, weshalb in der digitalen Welt z. B. auch Kompressionsalgorithmen (mp3, jpg) ihre Berechtigung haben können, welche nicht verlustfrei von Information sind und sogar darauf fußen.
Der Mensch schaut in diesem digitalen Zeitalter gerade in einen Spiegel, der ihm - im übertragenen Sinn - vorhält, was er nicht ist.
Doch viele Menschen leben noch in dem Glauben, ihr Gesicht in der dualen Welt vollständig abgebildet zu sehen, und so sind sie den Polarisierungen und der Determiniertheit dieser Welt völlig ausgeliefert, die mit dieser unvollständigen Spiegelung einhergeht.
Feindbilder
Wer auf die Missstände des Lebens und der Welt stets nur mit der polarisierenden Frage: "Bin ich oder die anderen daran schuld" blickt, der hat sich in die dunkle, kriegerische Welt von Feindbildern verirrt.
"Teile und Herrsche" - dieses alte Machtprinzip des florentinischen Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli, welches empfiehlt, eine zu besiegende oder zu beherrschende Gruppe in Untergruppen mit einander widerstrebenden Interessen aufzuspalten, sodass die Teilgruppen sich gegeneinander wenden, wird damit für die Machthungrigen besonders interessant.
Hannah Arendt beschreibt die Banalität des Bösen als die Fähigkeit von Menschen, grausame und unmenschliche Taten zu begehen, ohne dass sie dabei ihre moralische Empfindung verlieren oder sich als böse erleben. Sie argumentiert, dass es nicht notwendigerweise böse Menschen sind, die solche Taten begehen, sondern vielmehr Menschen, die sich in Situationen und Strukturen befinden, die ihre moralische Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein unterwandern.
Als Erich Kästner dies sagte, da wusste er bereits, dass man haltungsjournalistischen Medien für ihre stetige Erinnerung an die Fähigkeit, den eigenen Blick auch abwenden zu können, dankbar sein kann, indem man nicht in ihre überzeichneten Feindbilder blickt, die sie erfinden, um ihre Produkte dank des biologisch vorhandenen negativen Bias bzw. News-Bias zur schlechten Angewohnheit werden zu lassen, und sie womöglich erneut als Propaganda-Maschine gewähren zu lassen.
Arendt betont beispielsweise, dass die Täter im Eichmann-Prozess nicht als sadistische oder perverse Menschen dargestellt werden sollten, sondern als Menschen, die sich in einer Situation befanden, in der sie ihre moralische Verantwortung verloren. Sie beschreibt Eichmann als einen "banal" bösen Menschen, der sich in der Rolle des Bürokraten und Funktionärs des NS-Regimes befand und seine Aufgaben ausführte, ohne sich bewusst zu sein, dass er dabei Teil eines systematischen Verbrechens war.
Arendt's These der Banalität des Bösen zielt darauf ab, zu verstehen, wie Menschen in totalitären Systemen und autoritären Strukturen zu Tätern werden können, ohne dass sie sich selbst als böse erleben oder sich moralisch verantwortlich fühlen. Sie betont die Bedeutung von Strukturen, Institutionen und situativen Faktoren bei der Entstehung von Bösem und unterstreicht die Notwendigkeit, diese Faktoren zu analysieren, um die Ursachen von Verbrechen zu verstehen und möglicherweise zu verhindern.
Ein wesentlicher solcher Faktor, der dazu führt, dass Menschen ihre moralische Verantwortung verlieren, ist die Polarisierung durch Feindbilder. Wir sind in unserem Verhalten potentiell duzenden von Bias-Effekten ausgeliefert, die zu kognitiven Verzerrungen führen, sobald wir an die dazugehörigen Stereotypen glauben.
Diese Gefahr steckt auch inhärent in Algorithmen, die Menschen ins Doomscrolling treiben und Gesellschaft polarisieren, indem sie Filterblasen hervorbringen.
Algorithmen
Um Klänge, Bilder und Antworten auf unsere Fragen finden zu können, haben wir digitale Suchwerkzeuge entwickelt.
Die kapitalistischen Monetarisierungs-Strategien der BigTech-Unternehmen (»Du bekommst von uns alles "kostenlos"«) haben die Such-Werkzeuge zu SuchT-Werkzeugen gemacht, um Unternehmens-Gewinne zu maximieren. Die SuchT-Algorithmen haben uns permanent und ausschliesslich so stark mit dem gefüttert, was wir sehen, hören und denken wollen, dass sie dabei die einzelnen Lebensanschauungen stark eingeschränkt haben, sich zwischenmenschliche Fronten verhärten konnten, sich Feindbilder um ein Vielfaches verstärkt haben und gebündelt wurden und sich über dies hinaus sogar noch der Graben zwischen gesellschaftlicher Infantilisierung und Paternalismus vertiefen konnte.
Peter Sloterdijk behandelt in seinem Werk "Sphären III: Schäume" die Metapher des Schaums als zentrales Konzept zur Analyse der modernen Gesellschaft.
Die Konzepte von Peter Sloterdijks "Schaum" und den modernen "Filterblasen" weisen Parallelen auf, die sich auf die Struktur und Dynamik sozialer Interaktionen in der heutigen Gesellschaft beziehen. Hier sind einige der zentralen Gemeinsamkeiten:
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Koexistenz und Fragmentierung: Sloterdijk beschreibt Schäume als Ansammlungen von Seifenblasen, die in einem fragilen Gleichgewicht koexistieren. Diese Blasen symbolisieren individuelle Identitäten innerhalb einer dynamischen, aber instabilen sozialen Struktur. Ähnlich besteht eine Filterblase aus einer Gruppe von Informationen und Meinungen, die eine Person konsumiert, was zu einer Fragmentierung des Diskurses führt, da andere Perspektiven ausgeblendet werden.
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Isolation und Bestätigung: In beiden Fällen leben Individuen in isolierten Umgebungen, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen. Sloterdijks Schaum steht für die Flüchtigkeit und die ständige Selbstauflösung von sozialen Geltungen, während Filterblasen dazu führen, dass Nutzer nur Inhalte sehen, die ihre eigenen Ansichten widerspiegeln und somit eine verzerrte Wahrnehmung der Realität erzeugen.
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Mediengestützte Selektion: Sloterdijk kritisiert die moderne Gesellschaft dafür, dass sie sich in "Raum-Vielheiten" entfaltet, in denen individuelle Zellen lose aneinanderrühren. Dies ist vergleichbar mit dem Algorithmus-basierten Ansatz der Filterblasen, wo Inhalte selektiv angezeigt werden, um den Nutzer in seiner Komfortzone zu halten und ihn von abweichenden Meinungen abzuschotten.
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Kritik an der Transparenz: Sowohl bei Sloterdijk als auch im Kontext von Filterblasen wird die mangelnde Transparenz als Problem hervorgehoben. In Sloterdijks Werk wird die Schwierigkeit beschrieben, feste Strukturen in einer flüssigen Welt zu finden; bei Filterblasen ist es oft unklar, welche Inhalte aufgrund algorithmischer Entscheidungen verborgen bleiben.
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Gesellschaftliche Polarisierung: Die Konsequenzen beider Phänomene sind ähnlich. Sloterdijk sieht im Schaum eine Metapher für die Fragilität sozialer Bindungen und das Potenzial für Konflikte zwischen verschiedenen "Blasen" oder Gruppen. Filterblasen hingegen führen zur Polarisierung des öffentlichen Diskurses, da Menschen nur mit ähnlichen Meinungen konfrontiert werden und somit ein verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Realität entwickeln.
Die Oberflächenspannung ist das Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen den Molekülen einer Flüssigkeit, wobei Kohäsionskräfte eine zentrale Rolle spielen. Moleküle an der Oberfläche erleben eine ungleiche Verteilung dieser Kräfte, was zu einer Minimierung der Oberfläche führt und die charakteristische "Haut" der Flüssigkeit erzeugt. Tenside können diese Spannung gezielt beeinflussen und senken.
Die Reduktion der Oberflächenspannung einer Filterblase wird erschwert durch:
- Fehlende Algorithmen-Transparenz der Plattformen
- Natürliche Tendenz, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben
- Verstärkung der Filterblase durch zunehmende Personalisierung über längere Zeit
Ähnlich wie Hydrophobine bei Pilzen die Oberflächenspannung reduzieren, um Wachstum zu ermöglichen, kann eine bewusste Diversifizierung der Informationsquellen ein ausgewogeneres Weltbild fördern. Bei einer physischen Blase wird die Oberflächenspannung durch Tenside reduziert, die sowohl hydrophile als auch hydrophobe Eigenschaften haben. Ähnlich kann die Oberflächenspannung einer Filterblase durch Elemente reduziert werden, die sowohl vertraute als auch fremde Perspektiven vereinen :
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Diversifizierung der Informationsquellen
- Bewusstes Folgen von Gruppen oder Profilen mit abweichenden Meinungen in sozialen Netzwerken
- Nutzung verschiedener Medientypen (online und offline)
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Aktive Suche nach Gegenperspektiven
- Gezielte Recherche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen
- Nutzung von Podcasts wie "Pop the Bubble", die gegensätzliche Meinungen zusammenbringen
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Technische Ansätze
- Verwendung von VPNs, um andere geografische Perspektiven zu erhalten
- Nutzung verschiedener Suchmaschinen für unterschiedliche Zwecke
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Förderung kritischen Denkens
- Erlernen des Umgangs mit Statistiken
- Bewusstsein schaffen für die Existenz und schnelle Entstehung von Filterblasen
- Sich der Kunst des klaren Denkens annehmen
Fehlschlüsse
Fehlschlüsse sind Schlussfolgerungen, bei der die abgeleitete Aussage nicht aus den explizit angegebenen oder den implizit angenommenen Voraussetzungen folgt.
Polarisiert denkende Menschen neigen vor allem zum Fehlschluss des falschen Dilemmas, indem sie annehmen, dass es nur zwei mögliche Optionen gibt, obwohl in Wirklichkeit weitere Möglichkeiten existieren, und sie sehen dadurch neben dem Für und Wider zu einer Frage keine weiteren konstruktiven Möglichkeiten mehr als Antwort.
Während sich solche Fehlschlüsse bereits nach kurzer Zeit verfestigen können, und recht schnell (aber)gläubiges Verhalten fördern, benötigt es viele, viele Male des BEWUSSTEN Erlebens, in dem solche Ereignisse NICHT in der fehlschlüssigen Weise zusammentreffen, um den Fehlschluss als solches zu entlarven und diesen eigenen falschen Verdacht wieder zu zerstreuen !
Fatalismus und Determinismus
Fatalismus, der Glaube an Schicksal, ebenso wie Determinismus, die Auffassung, dass alles im Universum aufgrund der Naturgesetze vorbestimmt ist, lähmen die Tatkraft, verneinen beide die menschliche Autonomie und unterminieren die moralische Verantwortlichkeit.
So, wie bestimmte Schachfiguren nur bestimmte Felder betreten dürfen, erlegen sich die Glaubensträger fatalistischer Ideologien durch ihre Teilhabe Zwänge auf, sich in diesen fatalistischen Vorstellungen nur in gewisser moralischer Weise bewegen zu dürfen, die sie zum Teil den übrigen Mitmenschen versuchen, aufzuzwingen. Die Unfähigkeit, sich mit seinem Bewusstsein über die Dualität zu erheben, verführt sogar zu der Annahme, die Erde sei genauso flach.
Der Grund dafür könnte sein, dass ihre Gefühlswelt im frühkindlichen magischen Denken stecken geblieben ist und dadurch ihre irrationalen Vorstellungen so lange reproduziert, bis sie sich irgendwann - da nur sie selbst diese Arbeit leisten können - emotional in freiheitlich angemessenere Gefühlswelten "umgetopft" haben, ohne sich dabei zu entwurzeln.
Im Taoismus sind Polaritäten tief verwurzelt. Dort repräsentiert das Taijitu-Symbol die "dualistische Natur des Universums" und seine Gegensätze, die in einem harmonischen Gleichgewicht miteinander existieren. Yin repräsentiert Elemente wie Erde, Weiblichkeit, Dunkelheit, Passivität und Absorption Assoziiert mit Nacht, Ruhe, Empfangen, Kälte und Materie Yang dagegen repräsentiert Elemente wie Himmel, Männlichkeit, Licht, Aktivität und Durchdringung Assoziiert mit Tag, Bewegung, Geben, Wärme und Energie.
Die indische Philosophie sieht es differenzierter. In der Tradition von Kundalini-Yoga wird die "Kundalini-Energie" als potentielle Schöpferkraft beschrieben, die am unteren Ende der Wirbelsäule sitzt und durch spirituelle Praxis zum Fluss gebracht werden kann.
Die Schlangen des Hermesstabses repräsentieren zwei polare Energiekanäle IDA (Mondenergie) und PINGALA (Sonnenergie). Diese Kanäle sind Teil des chakrasystematischen Modells und symbolisieren die weibliche und männliche Aspekte der Energie. Die sich oben zuwendenden Köpfe der Schlangen verdeutlichen die Harmonisierung und Synthese dieser Gegensätze, was aus der Sicht dieser Philosophie für eine Gesundheit und Balance im Körper und Geist notwendig ist.
So zeigt sich, daß fast alle Glaubenssysteme dieser fatalistischen Schachbrett-artigen Flachwelt erliegen, bzw. durch sie kontrollierbar sind.
Dualismus in der Philosophie
Die Ontologie beschäftigt sich mit der Lehre vom Seienden, also mit der Frage nach der Natur und Struktur von Existenz, Sein und Wesen. Sie untersucht die Beziehungen zwischen Entitäten, Eigenschaften und Merkmalen von Dingen, und den Hierarchien und Strukturen, die diese als Kategorien, bzw. als Seiendes Sein miteinander vernetzen, d. h. welche also das metaphysisch Absolute, unabhängige Sein als Voraussetzung vom realen, materiellen Seienden inform der ontologischen Differenz voneinander trennen.
Das absolute Sein, wenn es überhaupt existiert, ist ein Konzept, das in der Metaphysik und speziell in der spekulativen Philosophie behandelt wird. Es bezeichnet ein Seiendes, das unveränderlich, ewig und unbedingt ist, und das alle anderen Seienden umfasst oder einschließt.
Was Martin Heidegger später als "Lichtung
" bezeichnete, stellte sich bereits der im Mittelalter lebende Logiker Charles de Bouelles in seiner Schrift "liber de sapiente
" als eine Art transzendenten Punkt, als ein inneres Auge (oculus humanus
) in jedem Lebewesen als endliches Subjekt vor, der mit allen äußeren Punkten dieses absoluten, unendlichen Seins , das er als "Auge Gottes" (occulus omnia videns
) verstand, verbunden ist und von dem gewissermaßen Botschaften und Eingaben zu empfangen seien und in die Lebewesen scheinen, die von ihnen hermeneutisch erkundet werden könnten.
Die Lehre der Leere (Zen) kann nur Fülle reflektieren, und das, je mehr man die Leere in die Arme nimmt. Da bei der vollkommen offenen Pupille des inneren Auges der Schmerz absehbar unermesslich ist, ist diese Leere dem endlichen Selbst unangemessen. Aufgrund seiner Vergänglichkeit ist solches innere Sehen immer schmerzhaft. Sicht hat, wenn nicht mehr gesehen werden muss. Selbst die Sicht muss ein Mensch sehen. Die Sicht hingegen hat das Sehen. Für den Menschen aber begegnen sich Weg und Ziel in der Spontaneität seines freien Willens.
Der Psychoanalytiker Jaques Lacan sieht später an dieser Stelle das Freud'sche Über-Ich, bzw. den großen Anderen und lehnt die Transzendenz an die Idee der Örtlichkeit von Wissen an, indem er sich die Topologie der Kleinschen Flasche von der Mathematik entleiht und dies als "Wissen, das sich selbst weiß
" bezeichnet. Im Gegensatz zur Denkfigur von Charles de Bouelles hat die Kleinsche Flasche jedoch keine zentrales, transzendentes Reflexionszentrum mehr, das "Gott" genannt werden könnte, sondern EINE und NUR EINE Seite. Wenn man sich auf ihrer Oberfläche bewegte, könnte man sich mit jemandem, auf genau der gegenüberliegenden Seite der Flasche dialektisch über die Position von Subjekt und Objekt, also über die Dualität von Materie und Geist, Objekt und Subjekt, über endliche Selbstbestimmtheit und unendliche Selbstlosigkeit streiten.
Doch in Wirklichkeit wäre es dann, wie bei einem Möbiusband, eben ein und dieselbe Fläche, auf der die beiden sich befänden – eine Fläche, die sich in der vierten Dimension nicht mehr durchdringt – und sie stritten jeder nur um ihre eigene Perspektive, anstatt über die ganze Wahrheit.
Heute erkennen wir den Übergang ins Über-Ich eher als den blinden Fleck, an dem sich die Sehnerven bündeln.
Die spätere Theorie Niklas Luhmanns ist von diesen traditionellen ontologischen und transzendentalphilosophischen Ansätzen stark abgegrenzt. Für ihn existiert das Konzept eines "absoluten Objekts" als Ordnung des Universums nicht und er lehnt die Vorstellung einer erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit ab, indem er postuliert, dass es stattdessen Systeme gibt, die sich selbst referenzieren und in einer komplexen, nicht vollständig beherrschbaren Umwelt existieren.
In seiner Systemtheorie hat Luhmann den klassischen Dualismus zwischen Ideenwelt und Materie weitestgehend aufgelöst. Er argumentiert, dass es in der modernen Gesellschaft keine klare Trennung mehr zwischen Ideen und materieller Realität gibt, da beide Bereiche eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen.
Luhmann ist der Ansicht, dass Ideen und materielle Prozesse nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, sondern vielmehr in einem komplexen Wechselspiel stehen. Er betonte die Bedeutung von Kommunikation als zentralem Element, das sowohl ideelle als auch materielle Realitäten konstruiert und aufrechterhält. Dabei nahm er den Unterschied George Spencer Browns als die Kerbe an, mit der jegliches Bewusstsein seine Wirklichkeit beschreibt.
Ideen und materielle Realität sind bei Luhmann als Teil eines autopoietischen Systems zu verstehen, das sich durch Kommunikation und die Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren konstituiert.
In seiner polykontextualrn Logik verschafft der Technik-Philosoph Gotthard Günther Informationen inform logischer Aussagen einen topologischen Ort durch multiple Perspektiven auf sie, indem er duale Logiken inform eines Isomorphismus zwischen ihnen aufspannt :
- Jeder Aussage wird ihre Gegenaussage zugeordnet
- Die Grundbeziehung „Negation“ wird sich selbst zugeordnet
- Die Grundbeziehung „Konjunktion“ wird der Grundbeziehung „Disjunktion“ zugeordnet
Leg' ein NICHT,
Dich für ein DU zu verneinen
wie ein Reiskorn auf das Schach.
Du kannst es plötzlich
nicht mehr bezahlen?
Ach!
Damit verdeutlicht auch er auf ganz rationale Weise, wie der Dualismus am Unermesslichen des Inneren scheitern muss, weil die Welt, die im Du zu finden wäre, in ihrem Umfang unbegreifbar ist.
Und auch Luhmann positioniert sich in seiner Systemtheorie gegenüber dem Realismus und den physikalischen und mathematischen Gegebenheiten, indem er die Auflösung zwischen Materie und Ideenwelt als eine systemische Konstruktion betrachtet. Für Luhmann existiert keine objektive Realität, sondern nur Konstruktionen, die durch Kommunikation und Beobachtung entstehen. Materie und Ideenwelt sind demnach nicht als getrennte Entitäten zu verstehen, sondern als verschiedene Aspekte der subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit :
»Die Welt bleibt das ausgeschlossene Dritte aller Unterscheidungen.«
So rechtfertigt die Welt als tertium non datur auf wundervolle Weise die Vielheit inform des subjektiven Einen in jedem einzelnen Bewusstsein.
Leg' einen Unterschied so oft Du willst
an, die Welt zu zeichnen.
Jeder Unterschied zeigt Dir nur an,
Du bleibst mit Dir im Einen.
Die anthromorphe Dualität
Alleine mit der Vernunft begreifen wir unsere sinnliche Umwelt nur objektiv, auch jegliches als Lebensform verkörpertes Bewusstsein. Niklas Luhmann und George Spencer Brown sehen die Unterscheidung als rationale Grundoperation. Die erste wirkliche Unterscheidung, die wir in der nach-ouroboischen Existenz durch die Geburt machen können, besteht mit größter Sicherheit zwischen sich selbst und der Umwelt. Einige Philosophen sprechen bei dieser angeborenen gespaltenen Wahrnehmung von Subjekt-Objekt-Spaltung. Alles weitere sind Unterscheidungen, für die wir uns willentlich entscheiden, wenn wir einen Denkgegenstand genauer differenzieren.
Bereits Gregory Bateson führt eine kybernetische Begriffsdefinition des Geistes ein: Geist (die Welt der Information) ist die Welt des Unterschieds. Ein Organismus, der auf einen Nervenimpuls reagiert, reagiert nicht primär auf die Energie, sondern auf den entstandenen Unterschied. Ein geistiger Prozess ist für Bateson somit Wahrnehmung von Unterschieden, Wahrnehmung von Information und auch Austausch von Information, folglich Kommunikation auf der kleinsten und größten Ebene, in Interkulturalität wie auch in der Epigenese, in der Evolution. Denken und Evolution funktionieren also nach demselben (stochastischen) geistigen Prozess.
Beim konstruktivistisch denkenden Menschen manifestiert sich der Unterschied in seinem eigenen Wesen sowohl zwischen ihm und der Welt, als auch zwischen ihm selbst als Akteur A
und ihm selbst als Beobachter B
, wobei er als Beobachter B
sich im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung wiederum beobachten kann.
B 👁> B 👁> B 👁> ... 👁> B 👁> A
Da es immer stets nur diese beiden Beziehungen B 👁> B
(2. Ordnung) und B 👁> A
(1. Ordnung) gibt, kann auch keine Kybernetik von 3. oder höherer Ordnung existieren.
So kommt Heinz von Foerster zu seinem ästhetischen Imperativ »Willst du erkennen, lerne zu handeln.«
Womöglich ist dabei jegliche Form von intellektueller Erkenntnis bereits eine Handlung des Unterscheidens und die Summe aller gemachten Unterschiede eines Menschen verleiht seinem inneren Auge eine Färbung, eine Sehkraft.
Da die zunehmende Sehkraft zum subjektiven Erleben von Unsicherheit führt, suchen wir nach Garantien, die uns unser Wissen sichern, indem wir unsere bisherigen gemachten Unterschiede sowohl mit der Umwelt, als auch mit Anderen abgleichen. Insbesondere, wenn wir die Sehkraft unseres Beobachters 2. Ordnung zu Garantien bringen wollen, müssen wir dies mit anderen Menschen gemeinsam tun, so wie es beispielsweise der um 1400 n. Chr. lebende Nikolaus von Kues mit seinen Glaubensbrüdern tat, als diese den Beobachter zweiter Ordnung gemeinsam miteinanter verschränkten.
Depolarisierung
Die Feuerfeder (der freie Wille), mit der wir unser Leben schreiben, ist mit Polaritäten nicht führbar, sonst wäre sie determiniert und programmierbar.
Nikolaus von Kues hatte die Idee des Zusammenfalls (Koinzidenz) aller Gegensätze zu einer Einheit, die er Coincidentia Oppositorum nannte. Obwohl er Mönch war, konnte die Kirche das nicht verinnerlichen. Stattdessen hat sie sich, trotz ihres Gottes und Teufels, den sie hat, seit Luther zusätzlich in die katholische und die protestantische Strömung gespalten. Mit Vernunft lässt sich die Erkenntnis der Coincidentia Oppositorum von Nikolaus von Kues zwar nachvollziehen, doch ist das "die-Vernunft-tragende" Bewusstsein darüber mit großer Sicherheit an anderer Stelle zu suchen, wo es von Polaritäten unberührt bleiben kann.
Die Diskordiander haben dieses Prinzip stark verinnerlicht. Das erste Gesetz ihrer Scherz-Religion verbietet, an sie zu glauben, nur um die ganze Absurdität von (Aber)glauben sichtbar zu machen. Sie stellen die Ordnung dem Chaos gegenüber, inform des Pentagramms und dem Zankapfel der griechischen Göttin Eris der Zwietracht, die der römischen Göttin Diskordia entspricht.
Der Zankapfel, den die Göttin Eris mit der Aufschrift : "Für die Schönste" den restlichen Göttern vorwarf, löste den trojanischen Krieg aus und führte zu Chaos. Die Eristische Dialektik von Arthur Schopenhauer beschäftigt sich in dem kleinen Band "Die Kunst, Recht zu behalten" mit rabulistischen Sprachmitteln, die auch von absichtlichen Fehlschlüssen Gebrauch machen.
Das Pentagon hingegen wird von den Diskordianern als Symbol für Ordnung verwendet, weil es als Sitz des US-Verteidigungsministeriums ein starkes Symbol für militärische und bürokratische Macht darstellt. Vermutlich gründen sich deren Strukturen über die verschiedenen Logen wiederum zurück auf die Hermetik, da die hermetischen Lehren oft von Geheimhaltung umgeben waren und dies dazu führte, dass der Begriff "hermetisch" auch im Sinne von "verschlossen" oder "unzugänglich" verwendet wurde. Die Verschmelzung von Hermes und Thoth symbolisiert in der inneren Alchemie die Integration von Gegensätzen und die Überwindung von Dualitäten. In der inneren Alchemie wird dies als Prozess verstanden, bei dem der Praktizierende seine inneren Widersprüche erkennt und harmonisiert, um zu einem unanfechtbaren Bewusstseinszustand zu gelangen.
Demnach hängt jede Ordnung von ihrer Erkenntnis ab, und neue Erkenntnisse führen zu neuen Ordnungen.
Ob zur Erhaltung der subjektiven Perspektive eine Hermetik den Ausschluss der Hermeneutik erzwingen muss, oder ob man heute dabei nicht eher an Methoden, wie Debiasing denkt, das obliegt dem Zeitpunkt, wann man die Frage und all ihre möglichen Gesinnungen, wer auf der anderen Seite zu vernehmen sei, endgültig losgelassen hat. Dem heutigen Menschen des Okzidents bleibt ein solches bikamerales Wahrheits-Erlebnis gewöhnlich sogar dann erspart, wenn er sich nicht gerade philosophisch betätigt. Sonst käme er zuletzt zu einer gesinnungslosen Gesinnung, die lauten könnte : »Ich halte meine Gesinnung für möglich aber nicht notwendig und ich erkenne dies ebenso für andere Gesinnungen an.«
Damit wird Stille im Wesen am Ende immer ein kybernetisches Patt erster oder zweiter Ordnung :
- als eine Kontingenz zwischen Ich und Es : Es ist weder notwendig noch unmöglich
- als eine doppelte Kontingenz zwischen Ich und Du, wo sich Geben und Nehmen gegenseitig sein lässt :
Ich mache Dir nichts notwendig, das Du mir möglich machst und
Du machst mir nichts notwendig, das ich Dir möglich mache und
Ich mache Dir nichts möglich, das Du mir notwendig machst und
Du machst mir nichts möglich, das ich Dir notwendig mache.
Weiterführende Quellen
- anti-bias.eu
- laetus in praesens: "Documents relating to Polarization, Dilemmas and Duality"
- Prof. Dr. Peter Sloterdijk: "Ästhetische Positionen - Von Heidegger bis Luhmann"