Über das Sehen

Autor : Gerd Raudenbusch
Stand : 27.12.2024

Inhalt

Menschliches Sehen

Das menschliche Auge kann pro Sekunde etwa 10 Millionen Informationen aufnehmen und verarbeiten, was es zu einem äußerst leistungsfähigen Sinnesorgan macht. Das Sehen mit dem Auge ist ein komplexer Prozess, der mehrere Schritte umfasst:

Das Auge Gottes

Was Martin Heidegger später als "Lichtung" bezeichnete, stellte sich bereits der im Mittelalter lebende Logiker Charles de Bouelles in seiner frühen Schrift "liber de sapiente" als eine Art transzendenten Punkt, als ein inneres Auge (oculus humanus) in jedem Lebewesen als endliches Subjekt vor, der mit allen äußeren Punkten dieses absoluten, unendlichen Seins , das er als "Auge Gottes" (occulus omnia videns) verstand, verbunden ist und von dem gewissermaßen Botschaften und Eingaben zu empfangen seien und in die Lebewesen scheinen, die von ihnen hermeneutisch erkundet werden könnten.

Die Lehre der Leere (Zen) kann nur Fülle reflektieren, und das, je mehr man die Leere in die Arme nimmt. Da bei der vollkommen offenen Pupille des inneren Auges der Schmerz absehbar unermesslich ist, ist diese Leere dem endlichen Selbst stets unangemessen. Aufgrund seiner Vergänglichkeit ist solches innere Sehen immer schmerzhaft. Sicht hat, wenn nicht mehr gesehen werden muss. Selbst die Sicht muss ein Mensch sehen. Die Sicht hingegen hat das Sehen. Für den Menschen aber begegnen sich Weg und Ziel in der Spontaneität seines freien Willens.

Der Psychoanalytiker Jaques Lacan sieht später an dieser Stelle das Freud'sche Über-Ich, bzw. den großen Anderen und lehnt die Transzendenz an die Idee der Örtlichkeit von Wissen an, indem er sich die Topologie der Kleinschen Flasche von der Mathematik entleiht und dies als "Wissen, das sich selbst weiß" bezeichnet. Im Gegensatz zur Denkfigur von Charles de Bouelles hat die Kleinsche Flasche jedoch kein zentrales, transzendentes Reflexionszentrum mehr, das "Gott" genannt werden könnte, sondern EINE und NUR EINE Seite. Wenn man sich auf ihrer Oberfläche bewegte, könnte man sich mit jemandem, auf genau der gegenüberliegenden Seite der Flasche dialektisch über die Position von Subjekt und Objekt, also über die Dualität von Materie und Geist, Objekt und Subjekt, über endliche Selbstbestimmtheit und unendliche Selbstlosigkeit streiten.

Kleinsche Flasche mit subjektiver und objektiver Perspektive
Kleinsche Flasche mit subjektiver und objektiver Perspektive

Doch in Wirklichkeit wäre es dann, wie bei einem Möbiusband, eben ein und dieselbe Fläche, auf der die beiden sich befänden – eine Fläche, die sich in der vierten Dimension nicht mehr durchdringt – und sie stritten jeder nur um ihre eigene Perspektive, anstatt über die ganze Wahrheit.

Wahrheit als Perspektive
Wahrheit als Perspektive

Jaques Lacan hat das Sehen sogar als eine Art "Fehlsichtigkeit" oder Anstoss aufgefasst. Er verwendet die Anekdote einer Sardinenbüchse, um zentrale Konzepte seiner Psychoanalyse zu illustrieren, insbesondere die Unterscheidung zwischen dem "Auge" und dem "Blick". In dieser Geschichte beobachtet Lacan als junger Mann eine Sardinenbüchse im Wasser, auf der sich die Sonne spiegelt. Ein Fischer fragt ihn: "Siehst du die Büchse? Sie sieht dich nicht!".

Diese Anekdote verdeutlicht, dass die Büchse ihn nicht wie ein Auge sieht, sondern dass der Lichtreflex auf der Büchse als "Blick" fungiert. Lacan interpretiert dies als Hinweis auf die Art und Weise, wie Subjekte in der Welt wahrgenommen werden: Während das Auge etwas sieht, ist der Blick eine andere Dimension der Wahrnehmung, die mit dem Begehren und der Kastration verbunden ist. Der Lichtreflex, der auf der Büchse erscheint, symbolisiert den Blick, der das Subjekt konfrontiert und ihm die Abwesenheit oder das Fehlen von etwas bewusst macht.

"Du erblickst mich nie da, wo ich dich sehe."

Jaques Lacan


Sehen und Zeigen: Wer beobachtet, wird auch beobachtet und könnte sich dabei selbst erkennen
Sehen und Zeigen: Wer beobachtet, wird auch beobachtet und könnte sich dabei selbst erkennen

Seiner Theorie nach unterscheidet sich der Blick der Welt, sowie ihren Dingen und Personen, die ein Subjekt "anblicken" fundamental von der klassischen Auffassung des dinglichen "Sehens" der Welt mit dem Auge.

Das obere Dreieck stellt das klassische Sehen dar, in welchem ein Objekt im Geometralpunkt (Auge) ein Bild erzeugt. Das untere Dreieck verkörpert den "Blick" der Welt, ihrer Dinge und Personen auf das Subjekt, auf das Ich, auf die Person (Tableau). Der "Schirm" ist dabei das, was das Subjekt von sich offenbaren will und einerseits das Licht des Subjekts oder Selbstes verkleidet, andererseits das Ich als Träger eines Mangels (Objekt a), um den sich die Triebe drehen, vom einfallenden Licht der Welt wie eine Sonnenbrille "schützt". Lacan formuliert dies in den Sätzen :

»Der Fleck ist "der tychische Punkt der Sehfunktion".« und »Auge und Blick, dies ist für uns die Spaltung, in der sich der Trieb auf der Ebene des Sehfeldes manifestiert.«

Lacan argumentiert, dass der Blick nicht nur eine visuelle Wahrnehmung ist, sondern auch eine psychologische Dimension hat, die mit dem Mangel und der Kastration zusammenhängt, die das Subjekt in seiner Wahrnehmung von der Außenwelt beeinflusst und es mit dem Gefühl der Unvollständigkeit konfrontiert. Der Blick, der von der Büchse ausgeht, stellt eine Art von Täuschung dar, die das Subjekt in eine Beziehung zu seinem eigenen (auf Gott oder andere Leitfiguren projizierten) Mangel bringt.


Die Subjekt-Objekt-Spaltung führt die Psychoanalyse im allgemeinen auf den sekundären Narzissmus zurück, der gesunderweise aus dem Verlassen der frühkindlichen "uroborischen Vor-Ich-Phase" hervorgeht, in welcher das Selbst alles und alles das Selbst ist. Auch diesem gesunden Narzissmus wohnen Schaulust und Zeigelust inne.

In der Malerei sieht Lacan diesen narzisstischen Trieb künstlerisch, also auf nicht-sexuelle Weise sublimiert, ausgelebt, gestillt.

"Bild" und "Schirm" fallen in der Kunst zusammen. Während Lacan mit dieser Prämisse die Gemälde einiger Künstler analysiert, dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß er in der gleichen Prämisse Beiträge dazu sah, auch die Bilder und Symbole des eigenen Geistes besser und zu verstehen. Heute würden wir den Übergang ins Über-Ich eher als den blinden Fleck erkennen, an dem sich die Sehnerven des inneren Auges bündeln.

Das Tal der Blinden

Domenico di Pace Beccafumi: Lucia von Syrakus, Schutzpatronin der Blinden
Domenico di Pace Beccafumi: Lucia von Syrakus, Schutzpatronin der Blinden

Der Romanheld Nunez betritt das von H. G. Wells geschaffene "Land der Blinden", vierzehn Generationen, nachdem der letzte Sehende in diesem Land gestorben ist. Zunächst glaubt er, sich zum Herrscher und Lehrmeister der Menschen machen zu können, doch er scheitert, da die Bewohner durch ihre Erfahrung mit dem Leben im Tal und ihrer extremen Schärfung der übrigen Sinne ihm mindestens ebenbürtig sind.

Die Bewohner halten ihn für geistesgestört und zwingen ihn zu niedrigen Arbeiten, bis er "zugibt", sich das Sehen nur eingebildet zu haben, und vorgibt das beschränkte Weltbild der Blinden zu übernehmen. Einer der Dorfältesten, der Medizinmann, glaubt, den Grund für Nunez’ Verwirrung erkannt zu haben : Es sind die ungewöhnlichen "Schwellungen" in seinem Gesicht (seine Augen), die sein Gehirn reizen, sodass er nicht zu klaren Gedanken fähig sei. Durch eine Entfernung der Augen jedoch könne er ein vollwertiges, gesundes Mitglied der Gemeinschaft werden.

Am Ende gelingt Nunez die Flucht aus dem Tal der Blinden.

Es werde Licht

Sichtbarer Bereich im elektromagnetischen Spektrum
Sichtbarer Bereich im elektromagnetischen Spektrum

Der im gesamten elektromagnetischen Frequenzspektrum relativ kleine Bereich des sichtbaren Lichts ist eine Form von elektromagnetischer Strahlung, die von einer strahlenden Quelle, wie der Sonne oder einer Kerze, emittiert wird. Es breitet sich in Form von Wellen aus, ähnlich wie die Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Der für den Menschen sichtbare Bereich der elektromagnetischen Strahlung umfasst Wellenlängen zwischen etwa 380 und 780 Nanometern (nm).

Licht ist eine Form von Energie, die sich in Wellen ausbreitet. Die Wellenlänge des Lichts beeinflusst maßgeblich die Farbempfindung. Licht kann sowohl als Welle als auch als Teilchen (Photonen) beschrieben werden. Die Lichtgeschwindigkeit in Luft und Vakuum beträgt etwa 300.000 Kilometer pro Sekunde.

Im alten Griechenland glaubte Aristoteles, dass sich Licht ähnlich wie Wasserwellen bewegt, während Pythagoras davon ausging, dass das menschliche Auge "heiße Sehstrahlen" aussendet. Heute wissen wir, dass Licht eine elektromagnetische Welle ist, wie James Clerk Maxwell 1864 beschrieb.

Albert Einsteins Relativitätstheorie führte die beiden konkurrierenden Ansätze – Wellen- und Korpuskelmodell – wieder zusammen, indem sie Licht als eine Welle beschrieb, die in kleinen Stößen (Photonen) ausgesandt wird.

So ist Die Sehweise der Physik mit der Sehweise des Menschen erwachsen und wir haben irgendwann erkannt, dass unsere geistigen Dächer zu tief gebaut waren und uns den Blick in die Sterne verwehrt haben.

Oculus des Pantheon in Rom
Oculus des Pantheon in Rom

Denn der Übergang von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Modell war nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine kulturelle und philosophische Revolution.

Heliozentrisches und geozentrisches Sonnensystem
Heliozentrisches und geozentrisches Sonnensystem

In der speziellen Relativitätstheorie spielt der Beobachter eine zentrale Rolle, da viele Phänomene wie Zeitdilatation und Längenkontraktion beobachterabhängig sind :

  • Gleichzeitigkeit ist relativ: Zwei Ereignisse, die für einen Beobachter gleichzeitig sind, müssen es für einen relativ dazu bewegten Beobachter nicht sein.

  • Bewegte Uhren gehen für einen ruhenden Beobachter langsamer. Die Zeitdilatation besagt, dass relativ zu einem Beobachter bewegte Uhren für diesen Beobachter langsamer laufen als ruhende Uhren.

Zeitverschiebung zweier Uhren, weil die obere eine größere Strecke im Raum zurücklegt
Zeitverschiebung zweier Uhren, weil die obere eine größere Strecke im Raum zurücklegt

  • Längen erscheinen einem relativ dazu bewegten Beobachter verkürzt (Längenkontraktion). Die Länge eines Objekts hängt davon ab, ob der Beobachter sich relativ dazu bewegt oder nicht.

  • Die Lichtgeschwindigkeit ist für alle Beobachter gleich. Unabhängig von der Bewegung des Beobachters misst jeder die gleiche Lichtgeschwindigkeit.

  • Beschleunigte Beobachter nehmen die Raumzeit verzerrt wahr, da Beschleunigung die Geometrie der Raumzeit krümmt. Aber diese Verzerrung ist eine Eigenschaft der Raumzeit selbst, nicht des Beobachters.

Im Zentrum unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße, befindet sich Sagittarius A* (Sgr A*), ein massereiches Schwarzes Loch mit etwa 4 Millionen Sonnenmassen.

Spiralgalaxie
Spiralgalaxie

Schwarze Löcher werden oft als Objekte beschrieben, die alles in ihrer Nähe verschlucken, einschließlich Licht. Aktuelle Simulationen und Beobachtungen haben gezeigt, dass das Fressverhalten von Schwarzen Löchern komplexer ist, als man bisher annahm. Der Zyklus des sich wiederholenden Prozesses von Fressen-Nachfüllen-Fressen dauert nur wenige Monate. Dies bedeutet, dass die “Nahrungsaufnahme” bei supermassereichen Schwarzen Löchern viel schneller abläuft, als bisher angenommen.

Schwarze Löcher können Licht auch ablenken oder verdunkeln. Beispielsweise kann der Schatten eines Schwarzen Lochs durch beleuchtete Objekte dahinter sichtbar gemacht werden. Die starke Gravitation eines Schwarzen Lochs kann Licht von aus unserer Perspektive dahinter liegenden Objekten ablenken und zu einem leuchtenden Ring führen.

Auch die göttliche Existenz inform des Laplace'schen Dämons widerspricht den Erkenntnissen und Annahmen der modernen Physik und Philosophie.

Medusa, Tochter der griechischen Meeresgottheiten Phorkys und Keto
Medusa, Tochter der griechischen Meeresgottheiten Phorkys und Keto

Jedes unserer Physik unterworfene Wesen hat gezwungenermaßen den Blick der Medusa, wenn es darum geht, den Ort und den Impuls eines Elektrons exakt zu bestimmen. Um den Ort eines Elektrons zu bestimmen, muss es beleuchtet werden, was bedeutet, dass Photonen auf das Elektron treffen und es ablenken. Diese Wechselwirkung führt jedoch zu einer Störung des Impulses des Elektrons, da die Photonen Energie und Impuls übertragen. Somit beeinflusst die Messung des Ortes direkt die Unbestimmtheit des Impulses, was die Heisenberg'sche Unschärferelation illustriert. Die Unschärfe bei der Bestimmung des Ortes ist dabei durch die Wellenlänge des verwendeten Lichts begrenzt. Eine präzisere Ortsbestimmung erfordert Licht mit kürzerer Wellenlänge, was jedoch die Störung des Impulses verstärkt. Umgekehrt führt die Verwendung von Licht mit längerer Wellenlänge zu einer größeren Unschärfe in der Ortsbestimmung, was die Unschärferelation weiter verdeutlicht.

Die moderne Physik, von der Thermodynamik bis hin zur Chaostheorie zeigt, dass die Prozesse und Systeme unvorhersehbar und chaotisch sind und der Existenz eines Laplacschern Dämons, der alle Ereignisse vorhersagbar wären, diesem Chaos widersprechen.

Auge eines Tornados von oben
Auge eines Tornados von oben

Ein Laplacscher Dämon, der alles kennt und vorhersagen kann, würde außerdem den Freien Willen und die menschliche Entscheidungsfreiheit untergraben.

Man kann sich über Physik nicht hinwegsetzen, solange man sie beansprucht. Aus rein idealistischer Perspektive lässt sich daher formulieren :

»Aufgrund seiner Vergänglichkeit ist Sehen immer schmerzhaft. Sicht hat, wenn nicht mehr gesehen werden muss. Selbst die Sicht muss ein Mensch sehen.«

Wie kann man zu dieser Erkenntnis kommen ?

Der blinde Fleck

Querschnitt des menschliches Auges
Querschnitt des menschliches Auges

Dem physischen Phänomen, das wir durch ein einfaches Experiment hautnah erleben können, liegt der blinde Fleck in unserem Auge zugrunde, an dem sich der Sehnerv zum Gehirn bündelt.

Erst wenn wir unseren eigenen Vorgang des Sehens selbst sehen (Sehen des Sehens), sind wie in der Lage, unseren blinden Fleck in der Wahrnehmung zu erkennen !

✖︎ ●

Nimm dieses Blatt in die rechte Hand, schließe das linke Auge und fixiere mit dem rechten Auge das Kreuz. Bewege das Papier dann entlang der Sichtachse vor oder zurück, bis der schwarze Kreis bei einer bestimmten Entfernung (die zwischen 30 und 35 cm beträgt) verschwindet. Sofern Du das Kreuz auch weiter scharf im Auge behälst, bleibt der Kreis auch dann unsichtbar, wenn Du das Blatt in der Sichtebene verschiebst.


Die Erkenntnis dabei ist :

Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen !


Die weitere Erkenntnis ist aber, wie wir leicht schlußfolgern können, nicht auf die physische Sicht beschränkt, sondern betrifft unsere gesamte Erkenntnis !

Dies hat weitreichende Konsequenzen :

  • Es gibt keine objektive Wahrnehmung
    aufgrund ihrer Beschränkung auf (Spezies-)spezifische Sinnesorgane und spezifische Messmethoden
  • Es gibt keine objektive Beobachtung,
    weil jeder Beobachtung ein Blickwinkel oder eine Perspektive innewohnt
  • Es gibt keine objektive Beschreibung,
    denn jede Beschreibung zeichnet auch ein Bild desjenigen, der sie angefertigt hat
  • Es gibt keine objektive Erkenntnis,
    weil wir alle neuen Wahrnehmungen durch unsere bereits gemachte Gesamterfahrung und unsere Erwartungen selektieren und filtern
  • Es gibt keine objektive Selbsterkenntnis,
    weil das klassische objektive Begriffsvermögen für die Erfassung des fließenden Denkprozesses ungeeignet ist und dabei an der Selbstreflektion scheitert.

Sehen sehen

Bernhard Waldenfels schreibt 1994 im Buch "Antwortregister" : »Was sich am Blick entzieht, das ist dieser selbst als beredter Blick, als Anblick. Wir sehen nicht, worauf wir antworten und antwortend hinsehen. Der Stimme als dem Verschwiegenen und Lautlosen im Gesagten und in der Verlautbarung entspricht der Blick als blinder Fleck im Gesichtsfeld, der durch keine Spiegelung zu tilgen ist«

Aus der Perspektive Anna Schreibers, die dieses Zitat in "Phänomenologie des Schweigens" aufruft, weist Waldenfels den Blick "als ein Zwischenereignis aus, das weder ein Akt des Sehenden ist noch dem Sehenden zustößt, sodass in ihm pathische und aktive Momente in ein Zusammenspiel treten und sich Selbst- und Fremdbezüglichkeit verschränken"

Zum wechselseitigen Blick zitiert sie ihn weiter : "Sehe ich dem Anderen in die Augen, so sehe ich nicht nur einen Sehenden, sondern ich sehe auch, wohin der Blick des Anderen geht. Ich sehe, was der Andere sieht und im gewissen Umfang auch, wie er es sieht. Wir begegnen einer Blickgebärde; diese hat wie jede Gebärde eine bestimmte Richtung und Ausdruckskraft."

"Die eigenen Regungen und Impulse", so erklärt Anna Schreiber, "werden durch den Blick und das Verhalten des Anderen zurückgespiegelt. Dabei kommt es aber zu keiner vollkommenen Deckung, sondern der Blick verliert sich in einem unendlichen Spiegelkabinett, »da jeder gesehene Sehende wiederum sehen kann, daß ich ihn sehe, ferner: daß ich sehe, wie er sieht, daß ich ihn sehe, ferner: daß ich sehe, wie er sieht, daß ich ihn sehe, wie er sieht, daß ich ihn sehe usf.« (Waldenfels 1994, 499).

Schon der sächliche Spiegel verdoppelt unsere Gestalt nicht einfach, sondern der Spiegelung ist immer ein Moment der Verfremdung eingeschrieben, indem wir uns erst in unserer Eigenheit in ihm entdecken und es nur das Außen eines unergründlichen Innen vorführt (ebd.).

Dabei können wir uns in unserem eigenen Blicken selbst nicht vollständig beobachten, sodass der »fungierende Blick« sich selbst unzugänglich bleibt (Waldenfels 1999a, 127) und es zu einem »Selbstentzug im Fremdbezug« kommt (ebd.): »Die Öffnung des Gesichtsfelds stellt ein Ereignis dar, das uns sehen läßt, ohne selbst sichtbar zu werden. Die Blindheit, von der hier die Rede ist, bedeutet keinen bloßen Mangel, kein bloßes Nichtsehen; sie gleicht vielmehr dem Schweigen, das den Hintergrund der Rede bildet« (Waldenfels 1999a, 127).

Nur weil uns der eigene Blick verborgen ist, können wir die Welt und andere sehen: »Nur weil der Blick sich selbst entgeht, kann er sich im Spiegelbild und im Spiegel der Anderen entdecken« (ebd., 128).

Der eigene Blick wird vom fremden Blick angestachelt bis dahin, dass der Maler das Gefühl hat, dass die Dinge ihn sehen (ebd.), der Blick ist als einer, der immer schon außer sich bei anderem ist, ein begehrender Blick, der vom anderen angezogen oder abgestoßen wird (ebd, 130)."

So manifestiert sich im Konstruktivismus der Unterschied des Beobachters in seinem eigenen Wesen sowohl zwischen ihm und der Welt, als auch zwischen ihm selbst als Akteur A und ihm selbst als Beobachter B, wobei er als Beobachter B sich im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung wiederum beobachten kann.

B 👁> B 👁> B 👁> ... 👁> B 👁> A

Da es immer stets nur diese beiden Beziehungen B 👁> B (2. Ordnung) und B 👁> A (1. Ordnung) gibt, kann auch keine Kybernetik von 3. oder höherer Ordnung existieren. es sei denn, man würde die 3. Ordnung, wie Gregory Bateson in seinen Lernstufen andeutete, durch Verbindung von Ontogenese (persönliche Entwicklung) und Phylogenese (Entwicklung der Art) dem phylogenetischen Instutionalisieren von Bewußtseins-Inhalten zuschreiben wollen.

Ouroboroische Reise
Ouroboroische Reise

So kommt Heinz von Foerster zu seinem ästhetischen Imperativ:

»Willst du erkennen, lerne zu handeln.«

Womöglich ist dabei jegliche Form von intellektueller Erkenntnis bereits eine Handlung des Unterscheidens und die Summe aller gemachten Unterschiede eines Menschen verleiht seinem inneren Auge eine Färbung, eine Sehkraft.

Bereits Gregory Bateson führt eine kybernetische Begriffsdefinition des Geistes ein: Geist (die Welt der Information) ist die Welt des Unterschieds. Ein Organismus, der auf einen Nervenimpuls reagiert, reagiert nicht primär auf die Energie, sondern auf den entstandenen Unterschied. Ein geistiger Prozess ist für Bateson somit Wahrnehmung von Unterschieden, Wahrnehmung von Information und auch Austausch von Information, folglich Kommunikation auf der kleinsten und größten Ebene, in Interkulturalität wie auch in der Epigenese, in der Evolution. Denken und Evolution funktionieren also nach demselben (stochastischen) geistigen Prozess.

Da die zunehmende Sehkraft zum subjektiven Erleben von Unsicherheit führt, suchen wir nach Garantien, die uns unser Wissen sichern, indem wir unsere bisherigen gemachten Unterschiede sowohl mit der Umwelt, als auch mit Anderen abgleichen. Insbesondere, wenn wir die Sehkraft unseres Beobachters 2. Ordnung zu Garantien bringen wollen, müssen wir dies mit anderen Menschen gemeinsam tun, so wie es beispielsweise der um 1400 n. Chr. lebende Nikolaus von Kues mit seinen Glaubensbrüdern tat, als diese den Beobachter zweiter Ordnung gemeinsam miteinanter verschränkten.

In seiner Systemtheorie hat Niklas Luhmann den klassischen Dualismus zwischen Ideenwelt und Materie weitestgehend aufgelöst. Er argumentiert, dass es in der modernen Gesellschaft keine klare Trennung mehr zwischen Ideen und materieller Realität gibt, da beide Bereiche eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen.

Luhmann ist wie Bateson der Ansicht, dass Ideen und materielle Prozesse nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, sondern vielmehr in einem komplexen Wechselspiel stehen. Er betonte die Bedeutung von Kommunikation als zentralem Element, das sowohl ideelle als auch materielle Realitäten konstruiert und aufrechterhält. Dabei nahm er den Unterschied George Spencer Browns als die Kerbe an, mit der jegliches Bewusstsein seine Wirklichkeit beschreibt.

Hans Dieter Huber beschreibt in "Überkreuzte Blicke. Merleau-Ponty, Lacan, Beckett, Spencer-Brown", dass der Akt des Sehens immer mit einer inneren Spaltung verbunden ist. Diese Spaltung ist nicht nur eine philosophische Überlegung, sondern hat auch praktische Implikationen für das Verständnis von Kunst und deren Wirkung auf den Betrachter. George Spencer-Brown begründet die Spaltung in seiner Theorie durch den grundlegenden Akt der Unterscheidung, den er als zentral für die Erkenntnisprozesse betrachtet. In seinem Werk "Gesetze der Form" formuliert er, dass jede Beobachtung und jede Unterscheidung eine zweite Unterscheidung (den Beobachter 2. Ordnung) impliziert. Dies bedeutet, dass der Akt des Sehens nicht nur das Gesehene umfasst, sondern auch die Art und Weise, wie wir es wahrnehmen und kategorisieren.

  • Unterscheidung und Indikation: Spencer-Brown beschreibt, dass wir zuerst eine Unterscheidung treffen müssen, bevor wir etwas benennen oder darauf hinweisen können. Diese Unterscheidung schafft einen Raum zwischen dem Gesehenen und dem Beobachter, was zu einer inneren Spaltung führt.

  • Re-entry: Ein wichtiges Konzept in Spencer-Browns Theorie ist das des „Re-entry“, das die Selbstreferenzialität der Unterscheidungen beschreibt. Wenn wir eine Unterscheidung treffen, bringen wir immer auch die Möglichkeit mit ein, diese Unterscheidung selbst zu hinterfragen oder zu modifizieren. Dies zeigt, dass jede Kategorisierung immer auch eine Reflexion über die eigene Wahrnehmung beinhaltet.

  • Dynamik von Trennung und Beziehung: Die Spaltung ist also nicht statisch; sie erzeugt dynamische Beziehungen zwischen den getrennten Bereichen. Spencer-Brown argumentiert, dass durch die Abgrenzung Raum für neue Erkenntnisse und Handlungen entsteht. Diese Wechselwirkung zwischen Trennung und Beziehung ist ein zentraler Aspekt seines Denkens.

Insgesamt zeigt Spencer-Brown, dass unsere Wahrnehmung und unser Wissen über die Welt durch diese grundlegenden Prozesse der Unterscheidung strukturiert sind, was zu einer komplexen Interaktion zwischen dem Subjekt und dem Objekt führt.

Ideen und materielle Realität sind also bei Luhmann als Teil eines autopoietischen Systems zu verstehen, das sich durch Kommunikation und die Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren konstituiert.

Luhmann positioniert sich in seiner Systemtheorie gegenüber dem Realismus und den physikalischen und mathematischen Gegebenheiten, indem er die Auflösung zwischen Materie und Ideenwelt als eine systemische Konstruktion betrachtet. Für Luhmann existiert keine objektive Realität, sondern nur Konstruktionen, die durch Kommunikation und Beobachtung entstehen. Materie und Ideenwelt sind aus Luhmann's Sicht nicht als getrennte Entitäten zu verstehen, sondern als verschiedene Aspekte der subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit :

»Die Welt bleibt das ausgeschlossene Dritte aller Unterscheidungen.«

Erst Gotthard Günther erinnert daran, dass zwischen den Weltbegriffen der Menschen, wie sie Luhmann definiert hatte, vermittelbare Kontexte bestehen, die sich gegenseitig reflektieren. Er sieht jedes "Einzelsubjekt" mit seinem Weltbegriff als eine einzigartige "Stelle im Sein".

Was würden wir wohl erfahren, wenn wir mit unserer eigenen Welt in den Augen durch einen tiefen Blick in die Augen und die Welt eines geliebten Menschen reisen könnten, um uns am anderen Ende zu entdecken ?
Was würden wir wohl erfahren, wenn wir mit unserer eigenen Welt in den Augen durch einen tiefen Blick in die Augen und die Welt eines geliebten Menschen reisen könnten, um uns am anderen Ende zu entdecken ?


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