Paternalismus und das Münchhausen-Syndrom

Autor : Gerd Raudenbusch
Stand : 27.05.2025

Immer mehr Menschen meiden bewusst Nachrichtenportale. So steht also damit die Frage im Raum, woran das liegt und wie die Situation verbessert werden kann. Dass sich Nachrichten durch den Negativ-Bias besser verkaufen, ist seit langem bekannt. Vielleicht sind es heute die vielen konstruktiven Alternativen, die den klassischen Journalismus in vielen Bereichen enttrohnt haben. Politisches Wissen können wir uns heute direkt in Online-Bibliotheken und Portalen von Universitäten aneignen und so degeniereren viele Nachrichten einfach zu informationellen Wellenmachern, die gefühlt nur dafür sorgen wollen, dass keiner das schwimmen verlernt und sich so verkaufen.

Paternalistische Medien oder Institutionen neigen manchmal dazu, Gruppen als hilfsbedürftig oder unfähig zur Selbstverantwortung darzustellen. Das kann dazu führen, dass kollektive Verantwortung entmündigend interpretiert wird: Die Gruppe wird nicht als handlungsfähiges Subjekt, sondern als „zu betreuendes“ Kollektiv behandelt. Im Extremfall kann Paternalismus die Grenze zur Zuschreibung kollektiver Schuld verwischen, indem er Gruppen pauschal für gesellschaftliche Missstände verantwortlich macht und ihnen die Fähigkeit zur eigenständigen Verantwortungsübernahme abspricht.

Der Name "Münchhausen-Syndrom" wurde 1951 vom Londoner Psychiater Sir Richard Asher geprägt, um die psychische Störung zu beschreiben, bei der Betroffene Krankheiten vortäuschen oder absichtlich herbeiführen und diese dann glaubhaft und dramatisch präsentieren. Die Parallele zu Münchhausen besteht darin, dass die Betroffenen – ähnlich wie der Baron mit seinen Lügengeschichten – Symptome und Erkrankungen erfinden, um Aufmerksamkeit, Zuwendung oder andere psychologische Vorteile zu erlangen.

Übertragen auf gesellschaftliche oder mediale Kontexte dient das Münchhausen-Syndrom hier als Metapher für die Inszenierung von Kollektiven als Opfer oder Schuldträger: Einzelne Akteure (z. B. Medien) stellen Gruppen als dauerhaft hilfsbedürftig oder schuldig dar, um daraus Aufmerksamkeit, Kontrolle oder moralische Überlegenheit zu gewinnen. Dies führt jedoch dazu, dass Kollektiven nicht nur Verantwortung, sondern auch Schuld zugeschrieben wird, selbst wenn eine individuelle Täterschaft gar nicht vorliegt.

Inhalt

Ursachen für die Entwicklung von Paternalismus

Konkrete ausschlaggebende Ereignisse für Paternalismus

Parallelen zwischen der Paternalisierung durch die Medien und dem Münchhausen-Syndrom

Aspekt Münchhausen(-by-proxy)-Syndrom Paternalisierung durch Medien
Fremdbestimmung Opfer wird künstlich krank gemacht/kontrolliert Medien bestimmen, was „gut“ für das Publikum ist
Abhängigkeitsstruktur Opfer abhängig vom Täter Publikum abhängig von Medienmeinung
Inszenierung von Hilfsbedürftigkeit Ja Ja
Motiv: Kontrolle/Anerkennung Ja Ja
Pathologisierung/Opferrolle Opfer wird zum „Patienten“ gemacht Publikum als „schutzbedürftig“ dargestellt

Kollektive Schuld und kollektive Verantwortung

Kollektive Schuld

Kollektive Verantwortung

Mechanismen des Missbrauchs:

Kollektivschuld wird zur Machterhaltung missbraucht, wenn die Schuld für Vergehen oder Verbrechen nicht einzelnen Individuen, sondern einer ganzen Gruppe, Nation oder Gemeinschaft zugeschrieben wird. Dadurch können Machthaber oder politische Akteure die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Verantwortlichen ablenken und die individuelle Aufarbeitung sowie echte Verantwortungsübernahme verhindern.

Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt:

»Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht.«

Gleichzeitig rief er dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Inzwischen sind weitere 40 Jahre vergangen.

Medien, die besonders für paternalistisches Agieren bekannt sind

Öffentlich-rechtliche Medien Öffentlich-rechtliche Sender wie ARD, ZDF und Deutschlandradio werden häufig als Beispiele für paternalistisches Medienhandeln genannt. Dies äußert sich darin, dass sie Inhalte gezielt auswählen, gewichten und kommentieren, um das Publikum vor vermeintlich schädlichen Informationen zu schützen oder gesellschaftliche Gruppen als besonders schutzbedürftig darzustellen. Diese Sender betonen oft ihre Rolle als „Erklärer“ gesellschaftlicher Zusammenhänge und beanspruchen, Informationen für das Publikum einzuordnen und zu bewerten.

Mainstreammedien und „Nanny-Journalismus“ Der Begriff „Nanny-Journalismus“ wird häufig im Zusammenhang mit großen, etablierten Medienhäusern verwendet, die sich durch eine bevormundende Berichterstattung auszeichnen. Dazu zählen viele überregionale Tageszeitungen, Magazine und Nachrichtenportale, die Themen selektieren oder bestimmte Sichtweisen bevorzugt präsentieren, um das Publikum zu „schützen“ oder zu „erziehen“.

Beispiele aus der Berichterstattung

Internetkonzerne und Plattformen Auch große Internetkonzerne wie Google, Facebook und andere Plattformbetreiber agieren zunehmend paternalistisch, etwa durch die Kontrolle und Filterung von Inhalten, um Internet-Nutzende vor „schädlichen“ Informationen zu bewahren oder durch algorithmische Steuerung der Sichtbarkeit von Nachrichten.

Konkrete Schlagzeilen aus dem letzten Jahr zum Thema Paternalismus und kollektive Schuld/Verantwortung

Konkrete, wortwörtliche Schlagzeilen aus dem letzten Jahr zu Paternalismus und kollektiver Schuld/Verantwortung sind in den bereitgestellten Suchergebnissen nicht enthalten. Allerdings zeigen aktuelle Diskussionen und Medienberichte häufig paternalistische Tendenzen, etwa bei politischen Maßnahmen, die mit dem Schutz bestimmter Gruppen oder der Gesellschaft insgesamt begründet werden, oder bei der Zuweisung von Verantwortung für gesellschaftliche Missstände an ganze Gruppen. Beispiele aus jüngerer Zeit wären etwa:

Übertragbare Ansätze aus der Behandlung des Münchhausen-Syndroms auf den Medienpaternalismus

1. Förderung von Partizipation und Selbstbestimmung

2. Aufbau einer respektvollen, gleichberechtigten Beziehung

3. Transparenz und Reflexion der eigenen Rolle

4. Kulturelle und soziale Sensibilität

5. Förderung von Medienkompetenz

Übernehmen von Verantwortung und Arbeit an strukturellen Schwächen ohne kollektive Schuldgefühle

1. Verantwortung übernehmen – konkret und lösungsorientiert

2. An strukturellen Schwächen arbeiten

3. Schutz vor kontraproduktiven kollektiven Schuldgefühlen

4. Praktische Methoden

Warum soziale Medien allein nicht zur politischen Willensbildung ausreichen

Soziale Medien bieten zwar schnellen Zugang zu Informationen und ermöglichen neue Formen der politischen Kommunikation, sie reichen aber für eine umfassende und ausgewogene politische Willensbildung nicht aus. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Entstehung von Zerrbildern in sozialen Medien

Die in sozialen Medien entstehenden Zerrbilder politischer Wirklichkeit haben mehrere Ursachen:

Voraussetzungen für haltungs- und vorurteilsfreien Journalismus sowie die Ermittlung und Darstellung von Fakten

1. Unabhängigkeit und Distanz

2. Gründliche und kritische Recherche

3. Sachlichkeit, Neutralität und Ausgewogenheit

4. Transparenz und Nachvollziehbarkeit

5. Fairness und Accountability

6. Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen

Wege zu wertfreier Information und persönlicher Balance im Informationszeitalter

1. Diversifizierung der Quellen

2. Aktive Informationskompetenz

3. Bewusste Begrenzung und Strukturierung

4. Transparenz und Selbstreflexion

5. Medienkompetenz stärken

Um bestimmten Themen wie „Krieg“ in Nachrichtenquellen gezielt aus dem Weg zu gehen, stehen dir verschiedene technische und organisatorische Möglichkeiten zur Verfügung:

Technische Lösungen

Zusammenfassung

Paternalistisches Agieren ist besonders bei öffentlich-rechtlichen Medien, großen Mainstreammedien und zunehmend auch bei Internetkonzernen zu beobachten. Typisch sind dabei die Auswahl und Gewichtung von Nachrichten, das Einordnen und Kommentieren im Sinne eines „Besserwissens“ sowie die Inszenierung bestimmter Gruppen als hilfs- oder schutzbedürftig. Paternalismus hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg von einer staatlichen Fürsorge- und Kontrollinstanz hin zu differenzierten, teils aktivierenden Formen entwickelt. Ausschlaggebende Ursachen und Ereignisse waren vor allem Kriege, Wirtschaftskrisen und der gesellschaftliche Wunsch nach Sicherheit und Ordnung in einer zunehmend komplexen Welt.

Sowohl beim Münchhausen(-by-proxy)-Syndrom als auch bei der Paternalisierung durch die Medien finden sich Parallelen in der Fremdbestimmung, der Schaffung künstlicher Abhängigkeit, der Inszenierung von Hilfsbedürftigkeit und dem Streben nach Kontrolle und Anerkennung. In beiden Fällen werden Menschen in eine passive oder abhängige Rolle gedrängt, um den eigenen Einfluss und die eigene Bedeutung zu steigern.

Kollektive Schuld und kollektive Verantwortung unterscheiden sich grundlegend: Schuld setzt individuelle Täterschaft voraus, Verantwortung kann auch ohne persönliche Schuld übernommen werden. Paternalismus und Mechanismen ähnlich dem Münchhausen-Syndrom verwischen die Grenzen zwischen beiden Konzepten, indem sie Gruppen entweder pauschal Schuld zuweisen oder sie in eine passive, hilfsbedürftige Rolle drängen, was eine echte, selbstbestimmte Verantwortungsübernahme erschwert. Der Missbrauch des Kollektivschuldbegriffs dient dazu, individuelle Verantwortlichkeit zu verschleiern, die Aufarbeitung von Verbrechen zu blockieren und politische Machtverhältnisse zu stabilisieren. Echte kollektive Verantwortung, die auf Reflexion, Aufarbeitung und Prävention basiert, wird dadurch verhindert, weil die Diskussion auf eine pauschale und oft abwehrende Ebene verschoben wird.

Die wichtigsten übertragbaren Ansätze aus der Heilung des Münchhausen-Syndroms sind: mehr Partizipation und Selbstbestimmung, eine respektvolle Beziehung auf Augenhöhe, kritische Reflexion der eigenen Rolle, kulturelle Sensibilität und die Förderung von Medienkompetenz. Diese Prinzipien können helfen, paternalistische Strukturen in der Medienlandschaft zu reduzieren und das Publikum zu mündigen, aktiven Akteuren zu machen. Wer Verantwortung übernimmt, handelt aktiv, reflektiert und lösungsorientiert. Strukturelle Schwächen können nur gemeinsam und durch konkrete Beiträge überwunden werden. Kollektive Schuldgefühle sind kontraproduktiv – stattdessen sollte der Fokus auf individueller Verantwortung, Selbstwirksamkeit und konstruktiver Zusammenarbeit liegen.

Haltungs- und vorurteilsfreier Journalismus basiert auf Unabhängigkeit, gründlicher Recherche, Ausgewogenheit, Transparenz, Fairness und der klaren Trennung von Fakten und Meinungen. Nur so kann Journalismus seiner gesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden, verlässliche Informationen zur Verfügung zu stellen und eine fundierte Meinungsbildung zu ermöglichen. Wertfreie Information ohne Negativ-Bias werden am ehesten durch eine bewusste, vielfältige und kritische Auswahl der Informationsquellen erreicht, sowie durch klare Trennung von Fakten und Meinungen und aktives Management des Medienkonsums. So können Willkür, Aberglaube und Paternalismus umgangen und eine persönliche Balance im Informationsüberschuss gefunden werden. Mit News-Apps, Feed-Readern, Alerts und gezieltem Medienmanagement können gezielt einchüchternde Themen wie z.B. "Krieg" weitgehend ausgeblendet werden. Filterfunktionen, personalisierte Einstellungen und eine bewusste Quellenauswahl helfen, um den Nachrichtenkonsum an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.


Zurück zur Hauptseite